Denunziant Dr. Dahlgrün

Wie der Phoenix-Justiziar und spätere Bundesfinanzminister eine junge Büroangestellte der Gestapo auslieferte

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht im November 2016

(1) Dr. Rolf Dahlgrün (1908 - 1969)

Alle führenden Köpfe der Phoenix-Gummiwerke in Harburg konnten in den Jahren nach 1945 ihre Rolle im System der NS-Kriegswirtschaft weitgehend verschleiern. Ihnen half die Komplizenschaft der Mittäter und der Umstand, dass betriebliche Handlungen, anders als staatliche, wenig Akten hinterlassen, die zudem auch noch leichter zu vernichten sind. Ein Meister der weißen Weste war der von 1936 bis 1962 amtierende Phoenix-Justiziar Dr. jur. Rolf Dahlgrün.

1962 bemerkte die „Zeit“, auch wenn man alle Archive auf den Kopf stelle, es würde kaum ein Text von Dahlgrün zu Boden fallen.[1] Auch die DDR, die den in jenem Jahr Bundesfinanzminister gewordenen Ehrenmann allzu gern als Nazi enttarnt hätte, biss sich an ihm die Zähne aus. Sie förderte nicht mehr zu Tage als seine NSDAP-Mitgliedsnummer und eine vage Vermutung über seine juristischen Hilfsdienste bei der Übernahme von Gummifabriken in den von der Wehrmacht besetzten Ländern.[2] Diese Angaben hat Dahlgrün nie dementiert oder anderweitig kommentiert. Generell hat er über seine Tätigkeit bei der Phoenix konsequent geschwiegen. Als seine „amtliche“ Funktion im nationalsozialistischen Staat gab er stets und ausschließlich „Kanonier der Werksflak“ an, ansonsten erzählte er gern und schrullig von seiner Jagdleidenschaft. So mochte er den Zeitgenossen nicht als Täter aus eigenem Vorsatz, sondern als kleines, im übrigen sauberes Rädchen im Getriebe erscheinen, von einem pfiffigen Schwejk oder gar einem sich verweigernden Widerständler nicht weit entfernt.

Das war natürlich purer Unsinn. Wir haben bei der Darstellung der Phoenix-Geschichte auf dieser Website bereits darauf hingewiesen, dass angesichts der Verstrickung dieses Betriebes in Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit eine derart harmlose Rolle, wie Dahlgrün sie sich zumessen wollte, bei keinem der Verantwortlichen vorstellbar war.[3] Dahlgrün selbst bewerteten wir nach dem damaligen Kenntnisstand wie folgt: 

„In politischer Hinsicht darf man Dahlgrün als typischen Vertreter des national-konservativen niedersächsischen Bürgertums ansehen. Über seine Jagdleidenschaft kam er früh in Kontakt mit der Seilschaft des „Reichsjägermeisters“ Hermann Göring, was im übrigen damals auch der Firmenpolitik entsprach. Seine Kontakte aus dieser Zeit pflegte er bis in die 1960er Jahre, wieder in Jagdgemeinschaften und auch in der sich aus deren Dunstkreis herausbildenden deutschen Sektion des World Wildlife Fund. Im Krieg hatte er als Vertragsjurist im Schatten Schäfers und Friedrichs die Kooperationspartner in den besetzten Gebieten bereist. Nach seiner Selbstaussage beschränkte sich seine staatliche Laufbahn in jenen Jahren auf die Funktion eines Flugabwehrkanoniers auf dem Phoenix-Firmengelände, dem denkbar niedrigsten Dienstgrad in der artilleristischen Hierarchie. Publikationen in der DDR betonten stets seine NSDAP-Mitgliedschaft ab 1933. Näheres war über seine Funktionen allerdings nicht zu ermitteln. Eine nachträgliche Archivsäuberung zum Schutz des amtierenden Ministers ist denkbar. Ein Nationalsozialist in hoher Verantwortung oder ein Kriegsverbrecher großen Stils aber war Dahlgrün vermutlich nicht.“[4]

Heute nun geht es noch etwas genauer. Vor kurzem konnten wir eine Akte finden, die diese Bewertung anhand eines betrieblichen Vorfalls unterstützt, illustriert und weiter zuspitzt. Sie behandelt die Maßregelung der zur Büroarbeit dienstverpflichteten 21-jährigen Gertrud L. wegen verbotenen Umgangs mit dem bei der Phoenix eingesetzten französischen Kriegsgefangenen Gaston Gaud. Diese Akte macht Dahlgrün auch heute nicht zum großen Kriegsverbrecher – aber sie gibt näheren Aufschluss über seine betrieblichen Funktionen und offenbart uns darüberhinaus die mentalen Beweggründe und charakterlichen Merkmale eines typischen Schreibtischtäters.

Das Geschehen nach Aktenlage

Bei der Akte handelt es sich um eine staatsanwaltliche Strafakte, die alle wesentlichen Verfahrensschritte (Anzeige, Personenfeststellung, polizeiliche Ermittlungen, gerichtliche Beweisaufnahme, Urteil) umfasst.[5]

Sie widmet sich vermeintlichen Straftaten der Büroangestellten Gertrud L., geboren am 6. Mai 1921 in Harburg, im Verlauf des Jahres 1942. Sie wohnte damals als jüngstes von vier Kindern noch in der Hohen Straße bei ihren Eltern. Der Vater war Elektriker. Sie hatte vom März 1938 bis zum Mai 1940 als kaufmännische Angestellte im „Einheitskaufhaus Woolworth“ in der Wilstorfer Straße gearbeitet und war dann vom Arbeitsamt zur Büroarbeit bei der Phoenix dienstverpflichtet worden. Ihr Lohn betrug mit 105 Reichsmark netto im Monat etwa ein Drittel des damaligen Durchschnittslohns männlicher Facharbeiter. Außer einer seit 1937 bestehenden Mitgliedschaft in der Deutschen Arbeitsfront gehörte sie keiner nationalsozialistischen Organisation an.

Gertrud L. arbeitete in einer Büroetage inmitten der Werksgebäude und Produktionsstätten. Im Juni 1942 beobachtete sie durchs Fenster am Eingang des gegenüberliegenden Reifenwerks eine Gruppe mit dem Kürzel KG gekennzeichneter Zwangsarbeiter. Sie wusste, dass in der Phoenix französische Kriegsgefangene arbeiten mussten. Sie entdeckte einen, der ihr besonders gefiel. Sie machte Zeichen und lächelte ihn an, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ende Juni traute sie sich ins Reifenwerk, um ihn kennenzulernen. Gaston Gaud konnte etwas deutsch. Die beiden verzogen sich ins Treppenhaus und plauderten ein paar Minuten.

Diese kurzen Treffen wiederholten sich. Da sie im Treppenhaus beständig gestört wurden, schrieben sie sich darüber hinaus Briefe. Gaston Gaud brachte ihr zuweilen Geschenke mit, etwa Schokolade oder Feigen. Zu Zärtlichkeiten kam es nicht.

Bis Mitte August hatten sie sich ungefähr 15-mal im Treppenhaus getroffen. Kollegen und Kolleginnen bekamen es mit. Ende August 1942 wurde Gertrud L. zum Betriebsleiter beordert, dem Technik-Vorstand Emil Teischinger. Dieser wies sie in Anwesenheit des DAF-Betriebsobmanns und der Sozialreferentin auf ihr „unwürdiges“ Verhalten hin und verwarnte sie. L. versprach, die Beziehung abzubrechen.

Wenige Tage später erfuhr sie von einem Kollegen aus der Lohnbuchhaltung, Gaston Gaud sei aus dem Betrieb entfernt worden. Andere erzählten ihr, dass die Zwangsarbeiter wegen verbotener Kontakte besonders schwer bestraft würden. Sie machte sich Vorwürfe und versuchte, Gastons Schicksal herauszufinden. Sie passte die Gruppen der Kriegsgefangenen beim Verlassen der Werkshallen ab, um festzustellen, ob er noch dabei war. Sie legte außerdem an deren Arbeitsplätzen kleine Zettel aus, auf denen sie nach seinem Verbleib fragte. Wer es wüsste, sollte es aufschreiben und den Zettel dann liegenlassen. Ob sie etwas erfahren konnte, haben die späteren Ermittlungen nicht offengelegt. L. gab an, ihre Bemühungen seien erfolglos geblieben. Die Akte vermerkt, Gaston Gaud, Häftlingsnummer Stalag XB 84955, sei seit September nicht mehr bei der Phoenix beschäftigt gewesen, sein derzeitiger Aufenthaltsort sei das Lazarett des Kriegsgefangenenlagers Groß Borstel im Hamburger Norden.

Am 25.11.1942 wurde Gertrud L. von einer Kollegin und einem Werkschutzmann beobachtet, wie sie gegen 14 Uhr im Treppenhaus mit einem Wehrmachtssoldaten und einem Kriegsgefangenen beisammen stand und sich unterhielt. Unmittelbar danach verließ L. ihren Arbeitsplatz vorfristig wegen Unwohlseins. Die Kollegin und der Werkschutzmann meldeten den Vorfall bei der Betriebsleitung.

Am 26.11., 9.00 Uhr morgens, notierte ein Mitarbeiter der Harburger Gestapo einen Anruf des Phoenix-Justiziars Rolf Dahlgrün. Ein Brief Dahlgrüns vom selben Tag und mit demselben Inhalt trifft dort am 27. ein:

 

 

 

 

Noch am 26.11. um 16.30 nahm die Gestapo L. im Büro Dahlgrüns fest. Er hatte L. rufen lassen und persönlich dort festgehalten. L. kam ins Harburger Polizeigefängnis. Am nächsten Tag wurde sie bereits wieder entlassen, da es sich selbst aus der Sicht der Gestapo um einen ausgesprochen harmlosen Vorfall handelte.

Die Rollen und Motive

Wäre dieser Fall oder ähnliche (die es sicher gab) nach 1945 in irgendeiner Form zur Sprache gekommen, hätten Teischinger und Dahlgrün sich wahrscheinlich darauf berufen, dass sich ihr Handeln innerhalb des Rahmens der Gesetze und Verordnungen zum Umgang mit Kriegsgefangenen bewegt habe, dass es eine Anzeigepflicht bei Verstößen gab, die sie als Verantwortliche in einem kriegswichtigen Rüstungsbetrieb nur zum eigenem Schaden hätten umgehen können usw.

Das Missverhältnis von nichtigem Anlass und großem Verfolgungseifer (und, im Falle Gaston Gauds, vermutlich schwerer Misshandlung/ gesundheitlicher Schädigung) wirft jedoch Fragen auf: nach den Rollen, dem Selbstverständnis und den Handlungsspielräumen des Phoenix-Managements in diesem Fall.

Zunächst zu der einfachen Frage der Rollen. Der Brief Dahlgrüns an die Gestapo nimmt Bezug auf frühere Unterrichtungen der Firmenleitung. Zwischen Gestapo und Phoenix gab es also Arbeitsbeziehungen schon vor dem Vorfall. Hinsichtlich der Ausgestaltung dieser Arbeitsbeziehungen sind die folgenden Varianten denkbar:

So könnten die Kontakte zwischen Phoenix und Gestapo über die Verantwortlichkeiten, die Dahlgrün als Leiter der innerbetrieblichen „Zentralstelle für Ausländer und Kriegsgefangene“ oblagen, entstanden sein.[6] Der Einsatz dieser Arbeitergruppen wurde grundsätzlich als ein erhöhtes Sabotage-Risiko erachtet, insbesondere mit Blick auf die unter Ostarbeitern und Kriegsgefangenen zahlreich vermuteten Kommunisten. Aus diesem Risiko wurde dringender Abstimmungsbedarf zwischen Betrieb und Gestapo abgeleitet.

Oder die Gestapo und Dahlgrün wickelten die genannten Arbeitsbeziehungen über die Institution des betrieblichen „Sicherheitsbeauftragten“ ab, in der Regel ein führender Mann auf Vorstands- oder Bereichsleiterebene, der zu diesem Zweck von der Gestapo eingewiesen worden war und wohl auch regelmäßig über neue Gefährdungen unterrichtet wurde. Es ist denkbar, dass Dahlgrün diese Funktion für die Phoenix übernommen hatte.

Aber was sollte die kuriose Einberufung Dahlgrüns als Kanonier der Werksflak? Hier ist man heute noch vollends auf Spekulationen angewiesen. Immerhin - damit besaß er einen soldatischen Status. Es könnte dies als Grundlage gedient haben, ihn mit dem Wehrmachtsrang des (Ende 1943 neu geschaffenen) „Nationalsozialistischen Führungsoffiziers“ zu veredeln. Dieser Titel wird Dahlgrün gelegentlich angeheftet, allerdings stets ohne Beleg.[7] Seine Verleihung hätte ihm die erforderliche Augenhöhe im Verkehr sowohl mit der Wehrmacht, die für die Zwangsarbeiter zuständig war, als auch mit der Gestapo gesichert.[8]

Wie auch immer - Dahlgrün war schon aufgrund seiner tatsächlichen (belegbaren) Funktionen neben dem Vorstandsvorsitzenden und „Betriebsführer“ Albert Schäfer und dem Obmann der DAF Siemann realiter der dritte führende Nationalsozialist im Betrieb, verantwortlich für dessen kriegswirtschaftliches Funktionieren, ausgestattet mit auf Werkschutz und Personalwesen ausgreifenden Kompetenzen und der außerbetrieblichen Unterstützung der Gestapo.

Damit sind wir bei der Frage nach dem Selbstverständnis, das Dahlgrün mit dieser Rolle verband. Wir neigen zu der Einschätzung, dass er sich stets und vor allem als Befehlsempfänger seines Vorstandes sah. Mit anderen Worten: Er handelte nicht als Arm des Staates im Betrieb, sondern er nutzte die ihm staatlich zugewiesene Macht vor allem für die Sicherung der betrieblichen Rentabilität, so wie er sie verstand.

Als deren Bedingung sah er zum einen die kompromisslose Unterdrückung unbotmäßigen Verhaltens in der Belegschaft. Im Fall L. musste in deren Logik nach der missachteten Verwarnung durch Teischinger eine gesteigerte Bestrafung folgen, die Anzeige bei der Gestapo – welche Folgen sie auch immer haben würde.

Eine weitere Maxime des Phoenix-Managements war, produktive Mitarbeiter nach Möglichkeit zu halten, unproduktive aber loszuwerden. Dies konnte in politischen Fällen durchaus zu flexiblem Handeln führen. Hier hilft ein Blick auf vergleichbare Fälle. Im Juni 1939 eröffneten Teischinger und sein Abteilungsleiter Dr. Gerhard Voss dem Arbeiter Georg Einhaus, er könne nicht mehr weiterbeschäftigt werden, weil die Firma Kenntnis von seiner 18-monatigen politischen Haft 1933/ 34 erhalten habe. In Wahrheit wollten sie ihn loswerden, weil er in Folge brutaler Misshandlungen in der Haft oft krank war.[9] Anders bei dem Phoenix-Arbeiter Willi Milke im selben Jahr: Er wurde zeitgleich mit Einhaus eingestellt und kurze Zeit später zum Schichtführer befördert, obwohl Management und Betriebsobmann wussten, dass er vor 1933 kommunistischer Betriebsrat bei der Hobum und 1934/35 ebenfalls in politischer Haft war. Sie wollten ihn einfach behalten.[10]

Dass die Phoenix sich mit L. ein verspieltes, verträumtes Nesthäkchen vom Halse zu schaffen suchte, ist durchaus vorstellbar. L. flirtete gern und in viele Richtungen, sie verwandte überdies, wie die Durchsuchung ihres Arbeitsplatzes ergab, einiges an Arbeitszeit aufs Abtippen und Versenden erotischer Texte. Gegenüber dem Arbeitsamt, von dem die Phoenix bei der Versorgung mit Dienstverpflichteten und Zwangsarbeitern erheblich abhängig war, durfte das Unternehmen solche Motive allerdings nicht durchscheinen lassen. Ein allzu wählerischer Umgang mit zugewiesenen Arbeitskräften hätte dort Missmut hervorgerufen.

Das Gerichtsurteil

Nach der Freilassung L.s aus der Polizeihaft hatte der den Fall beurteilende Oberstaatsanwalt am Landgericht Hamburg beim Amtsgericht Harburg beantragt, die Beschuldigte aufgrund des geringen Gewichtes ihrer Tat im Schnellverfahren abzuurteilen. Das Gericht verurteilte L. am 4.1.1943 zu einem Monat Gefängnis, wahlweise abzugelten durch 150 RM Geldstrafe zuzüglich Verfahrenskosten.

Über das weitere Schicksal von Gaston Gaud ist uns nichts bekannt.

 

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Dahlgrüns NSDAP-Mitgliedschaft endete mit deren Verbot 1945. 1949 wechselte er zur FDP. 1953 bis 1957 gehörte er ihrer Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft an. Als Leiter des Haushaltsausschusses machte er die Finanzpolitik zu seinem bevorzugten Sachgebiet. In seinem Ehrenamt als Hamburger Arbeitsrichter auf Arbeitgeberseite[11] konnte er seine langjährigen Erfahrungen mit entrechteten Belegschaften und Zwangsarbeitern einbringen.

1957 trug ihn der Nimbus der Phoenix, der damals noch Bestand hatte, in höhere Ämter. Er wurde Mitglied des Bundestages und Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses. Im Dezember 1962 berief ihn Adenauer als Bundesfinanzminister ins Kabinett der CDU/ FDP Koalition. Dahlgrün behielt dieses Amt auch in den Koalitionsregierungen Erhard 1 und Erhard 2, verlor es 1966 dann beim Sturz Erhards und dem Beginn der Großen Koalition aus CDU und SPD. 1969 verließ Dahlgrün den Bundestag, er starb noch im gleichen Jahr am 19. Dezember an einer Lungenentzündung.

Dr. Rolf Dahlgrün, „bekannt (...) für seine anregende Geselligkeit und seinen entwaffnenden Humor“,[12] wurde am Jahresende 1969 in Harburg beigesetzt.

„Superintendent Werner Stein, Bundesminister Lauritz Lauritzen (SPD), der Fraktionsvorsitzende der Freien Demokraten im Bundestag, Wolfgang Mischnick, Staatssekretär Dr. Emde, Dr. Friedrich, Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber-Verbände und der Präsident des Hamburger Landesjagdverbandes, Carl Frantzen, würdigten Dr. Dahlgrün als "lautere Persönlichkeit", die den Preis für selbstlose Aufopferung viel zu früh habe zahlen müssen.“[13]

 

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Ergänzung nach neuen Funden 2019 und 2020:

Den Satz „Über das weitere Schicksal von Gaston Gaud ist uns nichts bekannt“ können wir jetzt streichen. Auf Anfrage schickte mir die in Caen/ Normandie ansässige Abteilung „Division des archives des victimes des conflits contemporains“ (DAVCC) im französischem Armeeministerium, die wohl die Akten für Entschädigungsfälle archiviert, freundlicherweise drei Kopien von Karteikarten, die auf Gaston Gaud Bezug nehmen. Aus ihnen geht hervor, dass Gaud

  • als Vornamen Gaston Jean führte
  • am 7. oder 19. Oktober 1918 geboren wurde
  • und zwar in Allinges/ Haute Savoie, einer 4.000-Seelen-Gemeinde am französischen Südufer des Genfer Sees
  • und dort auch, im Ortsteil Noyer, bis zu seiner Einziehung wohnte
  • von Beruf Bäcker war
  • am 26.1.1941 in das Kriegsgefangenenlager Sandbostel kam
  • am 20.12.1942 aus der Kriegsgefangenschaft in Deutschland entlassen wurde
  • am 24.12.1942 per Transport in das „Heimkehrer Lager“ (Heilag) in Chalon sur Saone im von Deutschland besetzten Frankreich, direkt an der Grenze zum Gebiet des Vichy-Regimes, eingeliefert wurde
  • am 16.7.1943 schließlich in seinen Heimatort Allinges-Noyer zurückkehrte (seit Juni 1940 Vichy-Gebiet, seit November 1942 italienisches Besatzungsgebiet, seit September 1943 deutsches Besatzungsgebiet, im Sommer 1944 von den Alliierten befreit)
  • und 1956 und 1958 vom damaligen französischen „Ministere des anciens combattants et victimes de la guerre“ jeweils 4.000,- Francs ausbezahlt bekam

(2) "... verließ Sandbostel den 20.11.1942 ... heimgekehrt Chalon sur Saone den 24.12.1942 ... begab sich nach Noyer/ Allinges den 16.7.1943"

Das Freilassen und Rückführen ("Rapatriement")  von Kriegsgefangenen in Deutschland war selten, und es geschah keinesfalls als Freundschaftsdienst gegenüber dem "verbündeten" Vichy-Regime, dem die Arbeitskraft der Gefangenen fehlte. In der Regel war das Motiv eine schwere Erkrankung des Gefangenen, die ihn für Arbeit dauerhaft untauglich machte – es handelte sich also um eine Maßnahme, „nutzlose Esser“ loszuwerden.

Und tatsächlich: in den kürzlich ins Internet gestellten Digilalisaten der Collections Archives Arolsen (früher International Tracing Service (ITS)) konnte ich eine weitere Karteikarte zu Gaston Gaud finden. Sie war vermutlich unmittelbar nach dem Krieg angelegt worden, von einem französischen Suchdienst, der systematisch deutsche Lagerlisten, Patientenkarteien von Krankenstationen, betriebliche Listen beschäftigter Zwangsarbeiter usw. auf Angaben zu französischen Staatsbürgern untersuchte. Diese Karte bestätigt als Geburtsdatum Gauds den 19.10.1918. Sie gibt ferner an, dass er am 29.10.1942 in eine Krankenstation eingeliefert wurde und dort am 25.11.1942 wieder entlassen wurde.[13a] War es das erwähnte Lazarett des Kriegsgefangenenlagers Groß Borstel? Jedenfalls ergibt sich jetzt eine schlüssige Terminkette: Anfang September 1942 Entfernung Gauds aus der Phoenix, Ende Oktober bis Ende November 1942 Krankenstation, im Dezember dann Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und Rücktransport nach Frankreich.

Es gab ab 1942/43 drei große Rückkehrer-Lager in Frankreich, neben dem in Chalon sur Saone eines in Chalons sur Marne und eines in Compiegne. Die Grundsätze und organisatorischen Rahmenbedingungen dieser Rückführung wurden ab Herbst 1942 von Deutschland zu Lasten dess Vichy-Regime immer weiter verschärft. Schließlich musste Vichy für jeden Rückkehrer drei "Freiwillige" für die Arbeit in der deutschen Rüstungsindustrie liefern. Warum Gaston Gaud vor der Rückkehr in seine Heimatstadt noch rund ein halbes Jahr im Heilag Chalon sur Saone blieb, ob er dort wieder ins Lazarett kam oder ob er von dort aus als Zwangsarbeiter eingesetzt wurde, wissen wir nicht. Das Lager hatte seinen Betrieb im Oktober 1942 begonnen und beendete ihn im März 1944.[14]

(3) Bekanntmachung der Vichy-Behörden zu den neuen Regeln für die eventuelle Rückführung kranker Kriegsgefangener Anfang 1943

 

Als Ursache einer plötzlich auftauchenden, dauernde Arbeitsunfähigkeit begründenden Krankheit zwischen der Entfernung Gauds bei der Phoenix (September 1942) und seiner Entlassung aus dem Stalag Sandbostel (Dezember 1942) kommen wohl in erster Linie schwere Misshandlungen in Betracht. Das ist ein Bauchgefühl, belegen kann ich es (noch) nicht.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des französischen Archivs gilt mein herzlicher Dank für ihre freundliche, unbürokratische und wirksame Unterstützung.

 

Anmerkungen

[1] Die Zeit v. 28.12.1962.

[2] Braunbuch, Berlin 1965, S. 50.

[3] Die politische Geschichte der Phoenix, Teil 1.

[4] Die politische Geschichte der Phoenix, Teil 2.

[5] Staatsarchiv Hamburg (StAH) 213-11 Nr. 2166/ 43.

[6] Vgl. Ellermeyer, Jürgen: Gib Gummi! Bremen 2006, S. 62.

[7] So bei Wikipedia, Artikel Dahlgrün. Vermutlich wurde Dahlgrüns Vita hier versehentlich mit der seines direkten Nachfolgers als Finanzminister F. J. Strauß vermischt, der den Rang innehatte.

[8] Zur Funktion dieses Offiziers vgl. allgemein Besson, Waldemar: Zur Geschichte des nationalsozialistischen Führungsoffiziers (NSFO), in: Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte, Heft 1/ 1961, S. 76 – 116.

[9] StAH 351-11 Nr. 21325.

[10] StAH 351-11 Nr. 18769.

[11] Die Zeit v. 28.12.1962.

[12] Hamburger Abendblatt v. 20.12.1969.

[13] Hamburger Abendblatt v. 31.12.1969.

[13a] Arolsen Archives DE ITS 2.3.3.2; https://collections.arolsen-archives.org/archive/78009594/?p=1&s=gaston%20gaud&doc_id=78009594, 21.10.2020.

[14] Betr. G. Gaud: Brief der DACVV an den Autor v. 19.3.2019; betr. Heilag Chalon: http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Kriegsgefangenenlager/Heimkehrerlager.htm, 26.3.2019, sowie Martine Chauney-Bouillot: Chalon-sur-Saône dans la guerre (1939-1945): Textes et documents, 1986.

 

Bildnachweis

(1) http://www.historic-documents.de/sammlung/bundesminister/dahlgrün-rolf/, 4.7.2015

(2) DACVV

(3) http://www.savoie-archives.fr/archives73/expo_savoie_des_ombres/pano09/thumb.html, 26.3.2019.

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